Als ich Enja, Verzeihung, Oklaija kennenlernte, da machte ich das erste Mal wirklich Bekanntschaft mit den Bünden und Pfadfindern. Von beidem hatte ich nur eine ungefähre Vorstellung und dachte dabei früher immer an die Pfadfinder in Filmen, meist Mädchen, die Kekse an Bewegungsfaule an der Tür verkauften. Trotzdem war meine Neugier natürlich geweckt, als Oklaija mir von ihren Fahrten und Singewettstreiten erzählte. Ich fragte sie nach Strich und Faden aus und stellte fest, dass das genau mein Ding war. Ich bin selbst immer viel draußen gewesen und hätte mich früher, wenn möglich, vielleicht selbst einem Bund angeschlossen. Der Begriff Meißner begegnete mir, mal abgesehen von Meißner Porzellan, also das erste Mal, als ich von den Vorbereitungstreffen für das Lager hörte. Das ging so eine ganze Zeit und Stück für Stück interessierte ich mich mehr für die Geschichte dahinter und versuchte nachzuvollziehen was eigentlich so besonders am Meißnerlager ist. Natürlich ist es etwas ganz Besonderes, wenn ein Treffen nur alle 25 Jahre stattfindet. Aber das allein konnte es schließlich nicht sein, Klassentreffen finden schließlich auch nach längerer Zeit statt und sind meistens nicht halb so interessant.
Ich wurde immer tiefer mit reingezogen und ließ das auch gern passieren. Ich begleitete Oklaija um Ostern herum beim Vorkommando für die Planung der Anreisewege und der Sichtung des Lagerplatzes. 3000 Bündische und Pfadfinder können schließlich nicht den gleichen Trampelpfad nehmen und in einer Ente anreisen. Wir durchstreiften das Gelände, machten Wege und Transportmittel aus, trafen uns mit Bündischen vor Ort und schmiedeten im Dreiergrüppchen mit Porky Pläne. Mehr und mehr wollte ich dabei sein, live sehen und hören wie sich das Lager abspielt und ein bisschen vom Zeitgeist mitnehmen. Umso überraschter war ich, als Oklaija und die anderen Mitglieder der Hansischen Fahrtenschaft meine Bitte erfüllten und mich mitnahmen. Ich kam mir ein wenig wie ein Fremdkörper vor, wie jemand der sich in eine eingeschworene Gemeinschaft drängelte und eigentlich fehl am Platze ist. Trotzdem überwand ich meine Bedenken – und habe es bis heute auf gar keinen Fall bereut. Ich bin stolz darauf Teil des Meißnerlagers 2013 gewesen zu sein!
Am 2. Oktober machte ich mich auf den Weg und kam in den Abendstunden an. Ich hatte für den 4. Oktober Urlaub genommen, um so lange wie nur möglich teilnehmen zu können. Begrüßt wurde ich von Oklaija mit einem gut gefüllten Deckel ihres Koschis und ‚ner ordentlichen Portion Essen direkt vom Feuer – herrlich! Im Dunkeln kämpften wir uns durch die Reihen der Kohten und Jurten zur Theaterjurte der Hansischen Fahrtenschaft… Ich war beeindruckt, ohne Frage. Man stelle sich eine Gruppe von etwa 30 Menschen an einem gemütlichen Feuer, fast alle in irgendeiner Form auf Fellen oder groben Bänken sitzend, vor. Ich verstaute meinen Rucksack in einem Teil unserer Schlafbereiche und ging zum Feuer. Ich setzte mich und bemerkte den ein oder anderen Blick, der an mir hängen blieb. Ja, ich fiel auf, denn ich trug kein Grünhemd und auch kein Halstuch, was mir in diesem Moment siedend heiß einfiel. Zum Glück ist ein roter Kopf im Feuerschein schlecht zu sehen und ich konnte gaaanz unauffällig und lässig mit meinem Meißnerarmband wedeln, das mich als offiziellen Lagerbewohner auswies. All das war vergessen, als der Tschai gereicht wurde und die ersten Lieder angestimmt wurden. Das war für mich eine unglaubliche Erfahrung… Natürlich kannte ich keinen der Liedtexte und musste mir daher irgendwoher einen „Codex“ schnorren oder bei anderen mit in das Liederbuch hineinschauen. Aber es hat mir unglaublichen Spaß gemacht und mir doch vor Augen geführt, wie wenig man eigentlich noch singt.
Stunde um Stunde verging bis wir morgens in der Frühe in unseren Schlafsäcken verschwanden. Oklaija und ich hatten zwei Schlafsäcke ineinander gelegt und mehrere Unterlagen gegen Kälte und Feuchtigkeit platziert, um bei minus vier Grad Celsius einigermaßen gemütlich schlafen zu können. Das war auch wieder so eine besondere Sache: der Schlafbereich. Man stelle sich etwa zehn Menschen im Kreis um eine kleine Lichtquelle liegend vor. Diejenigen am Zelteingang mussten natürlich darauf hoffen, dass sie in der Nacht von den hereinkommenden Leuten gesehen oder ertastet werden, sobald die anderen Schlafsäcke gefüllt wurden. Alles in allem war das ein guter erster Einstieg in das Lager und zu zweit ließ es sich auch bei Minusgraden gut aushalten.
Der nächste Morgen, der 3. Oktober, fing mit einem rustikalen Frühstück an. Dabei galt es möglichst früh aufzustehen, um sich an der Brötchenjagd zu beteiligen – denn wer zuerst kommt, isst zuerst. Mit einigen Brötchen im Magen machte ich mich dann zu Wasch- und Toilettenbereichen auf. Der Gang dorthin war jetzt schon um einiges angenehmer, weil mir die Fahrtenschaft ein Grünhemd und eine JuJa sponsorte, mit denen ich mich leicht unter das Lagervolk mischen konnte. Lange Reihen von Plastikdonnerbalken, Palettengehwegen und ordentlichen „Waschstraßen“ zauberten mir ein Grinsen aufs Gesicht. Ganz ohne Planung und Anpassung an die Menschenmengen funktioniert es eben doch nicht. Man kann ja nicht erwarten, den Wald und nur das vorhandene Wasser wie um 1913 für die notwendigen Dinge des Alltags zu benutzen, wenn über 3000 Lagerbewohner eine Wiese überfallen. Ich kam mir also auch ein bisschen wie ein Festivalbesucher vor.
Am schwarzen Brett vor Ort wurden die ganzen Kurse, Spiele und Veranstaltungen aufgelistet, die jedes Forum (es gibt vier Foren, je nach Himmelsrichtung plus das Forum Mitte) der Bünde im Laufe des Tages anbot. Das Angebot war überwältigend: vom Zerlegen eines Wildschweins, über mittelalterliche Tänze bis hin zu Theatervorstellungen war alles vertreten! Ich machte mich auf den Rückweg zur Jurte und beobachtete dabei die mich umgebenden Menschen. Jede Alterklasse war vertreten und fast alle waren in irgendeiner Form ihren Gruppen zuordbar, da sie verschiedenefarbige Hemden und Halstücher trugen. Hordenpötte und Holz wurden durch die Gegend gekarrt, weitere Jurten und Kohten hochgezogen. Das Lager wuchs noch weiter und das sollte auch in den nächsten Tagen so bleiben. Die Bauern im umliegenden Land hatten in Vereinbarung mit der Lagerleitung im letzten Jahr extra mehr auf den Feldern angebaut, um die Grundversorgung sicherzustellen. Wirklich ein unglaublicher Weitblick, der da bewiesen wurde…
In Begleitung von Oklaija und einigen anderen der Fahrtenschaft erkundete ich das ganze Lager und bekam einen Eindruck davon wo sich was befindet. In dem Zug konnte ich mir das Projekt „Wanderer zwischen den Welten“ anschauen und mich gleich auf meine Rolle als Lehrer vorbereiten. „Wanderer zwischen den Welten“ war eine ringförmig angelegte Anlage von Zelten, die jeweils von Eingang zu Eingang mit abgtrennten Wegen miteinander verbunden waren. In jedem Zelt wurde eine andere Alltagssituation mit den Besuchern (immer Grüppchen von zwei Leuten) durchgespielt, bzw. Familie, Sport oder eben auch die Schulzeit. Am Ende stand ein gemütliches Gespräch in entspannter Runde, um die Eindrück zu verarbeiten. Als „Lehrer“ durfte ich mich zwei Stunden lang austoben, jede Gruppe ordentlich ins Schwitzen bringen und auch die Älteren unangenehm an ihre Schulzeit erinnern. Ein herrlicher Spaß!
Als die zwei Stunden um waren, war meine Stimme heiser vom lauten Gerede im Unterricht und mein Magen leer von der vielen Aufregung, die natürlich hauptsächlich meine gepeinigten Schüler erleben durften. Deshalb gings schnell bei besten immer noch besten Wetter zurück zur Jurte, um noch etwas zu essen zu ergattern. Das Projekt kam auch in den nächsten Tagen so gut an, dass Extravorstellungen gegeben wurden und fast jeder, der wollte, aus dem Nordforum seine schauspielerischen Talente an den einzelnen Stationen zeigen konnte. Bis zum frühen Abend setzten wir dann unsere Streifzüge fort und fanden uns dann zu einem ordentlichen Abendessen mit anschließender Singerunde ein. An diesem Abend hatte die Hansische Fahrtenschaft die Interessierten, von denen es ausreichend gab, eingeladen, um gemeinsam zu singen. Später besuchten wir in kleinen Gruppen auch die riesigen Zeltburgen der anderen Foren und drängten uns bei Wein und ein paar Kleinigkeiten zum Essen mit etwa 150 Leuten bei lautem Gesang zusammen. So ging es dann bis in die frühen Morgenstunden, bis wir uns wieder in unser gemütliches Lager verkrochen und zufrieden einschliefen.
Am 4. Oktober kam ich dann nach dem Frühstück in den Genuss von Kippel-Kappel, dem Spiel der ausgeschlagenen Zähne und verlorenen Augen. Grob umrissen geht es darum, dass sich zwei Teams gegeneinanderspielen und versuchen, möglichst fix die gesetzte Punktegrenze zu erreichen. Es gibt ein Team im Abschlag und ein Team im Feld, das fängt. Geschlagen wird der Kippel, ein torpedoförmiges, todbringendes kurzes Stück Holz, mit dem Kappel, ein längerer Holzprügel. Punkte kann das abschlagende Team machen, indem es den Kippel soweit wie möglich ins Feld abschlägt; am besten so, dass niemand ihn fangen kann. Das Fängerteam kann punkten, indem es den Kippel fängt. Je nachdem, womit gefangen wurde, zwei Hände, eine Hand oder eben einem oder zwei Augen, steigt die Punktzahl an. Ist der Kippel gefangen worden, dann wechseln die beiden Teams ihre Position. Und so geht das bis zum bitteren Ende. Es macht Spaß und man lernt seine Gräten richtig zu koordinieren, sonst wird das mit dem Fangen nämlich nix. Nach ein paar Partien war erstmal Schluss und ich half ein bisschen dabei, die Holzvorräte aufzufüllen. Der Trick dabei war, möglichst wieder mehr Holz mitzubringen, als zu Beginn auf dem Wagen war… Hört sich einfach an, allerdings lag das Holzlager auf der anderen Seite des Geländes und das, was für den Transport zur Verfügung stand, war ein Wägelchen, das scheinbar noch vor dem ersten Meißnertreffen 1913 gebaut worden war. Genügend neugierige Blicke haben wir auf jeden Fall eingeheimst. Nichtsdestotrotz hielt der Holzpanzer die Hin- und Rückwege aus und der Abend war gerettet.
Doch bevor es soweit war, fand der Festakt statt. Wie soll man da anfangen? Also, es gab ein größeres Stück flach abfallende Wiese direkt neben dem Lagerplatz, auf dem die ganzen Pfadfinder und Bündischen sitzenderweise Platz fanden. Dieses Areal war begrenzt durch Pfähle in Abständen von etwa einem Meter, die dem Ganzen eine große ovale Form verliehen. Auf jedem Pfahl war eine Jahreszahl zu sehen und zu jedem Pfahl gehörte ein Fackelträger. Die Zahlen 1933 - 1945 waren als Mahnung an die dunklen Jahre geschwärzt und die dazugehörigen, später entzündeten Fackeln wurden am Ende des Festaktes nicht mit zum Lagerfeuer getragen, sondern verblieben an ihrem Platz. Eine Bühne bildete den Boden des Eis und den Punkt, an dem das Rahmenprogramm stattfand. Neben der Bühne unzähliche Wimpel und Fahnen der verschiedenen Bünde und Gruppen. Das Programm umfasste einige kurze Reden verschiedener Personen, Musikstücke und schließlich das Aufrufen den Jahreszahlen mit den dazugehörigen Bünden, die in diesem Jahr gegründet wurden. Zeitgleich wurde dann die entsprechende Fackel angezündet; die erste mit einem Feuer, das man vom allerersten Lagerplatz 1913 herübertrug. Es war wirklich eine tolle und sehr durchdachte Zeremonie. Vor den offiziellen Reden wurden Holzscheite durch die sitzenden Zuschauer nach oben zum Feuerplatz gereicht. Jeder trug also ein Stückchen dazu bei, dass am Ende ein großes Ganzes entzündet werden konnte. An die Reden kann ich mich zugegebenermaßen nicht mehr so intensiv erinnern. Ich weiß allerdings noch, dass es einen älteren Mann gab, der stolz darauf war, sagen zu können, dass er bereits zum dritten Mal am Lager teilnahm und er ließ ebenfalls die wenigen aus den Zuschauern aufstehen, die die gleiche Erfahrung teilten. Er sprach über die Werte der heutigen und damaligen Jugendbewegung. Ein weiterer Redner, er war deutlich jünger und hatte mit an der Planung des Lagers teilgenommen, kritisierte die Älteren, sprach ihnen das Recht ab, Teil der gegenwärtigen Jugendbewegung zu sein. Ich fand die Vorwürfe ungerechtfertigt. Warum sollte es jemanden verwehrt werden am Meißnerlager teilzunehmen? Ich habe die Erfahrung gemacht, dass jede Alterklasse auf dem Meißnerlager zu finden war und ich bin der Meinung, dass gerade das einen der Reize dieses Treffens ausgemacht hat. Zudem ich mit 25 Jahren selbst nicht mehr ganz zur Jugend zu zählen war.
Schlussendlich versammelten sich alle Fackelträger, mittlerweile im Dunkeln, um den mit Holz aufgetürmten Feuerplatz und entzündeten zusammen das riesige Lagerfeuer. Zuerst war es still und alle beobachteten gebannt das Feuer, jeder schien seinen Gedanken für einen kurzen Moment nachzuhängen. Dann begannen Gitarren zu spielen, die ersten Stimmen fielen ein und die ersten Lieder wurden gesungen. Mit einem guten und zufriedenen Gefühl im Bauch verließ ich schließlich das Feuer und ging langsam wieder zurück zur Theaterjurte der Hansischen Fahrtenschaft, meinem Zuhause in diesen Tagen. Es folgte wiederum ein Abend bei Gesang, Lagerfeuer und warmen Getränken. Die Glückssträhne hatte uns dann wettertechnisch leider verlassen und es begann zu regnen…
Und es regnete und regnete ohne Ende auch am 5. Oktober. Was blieb uns da anderes übrig, als uns Projekte zu suchen, die eher in den Zelten stattfanden? Also nahm ich am Taschenkurs teil und baute aus den Planen, die am Ende des Projektes „Wanderer zwischen den Welten“ von jedem Besucher mit einem Gedanken beschrieben wurden, Umhängetaschen. Unter der guten Anleitung war das eine witzige und trockene Sache und ich war schon ein bisschen stolz drauf, mal etwas mit den eigenen Händen zu machen. In einer kleineren Gruppe besuchten wir das selbstgebaute Karussel, bestehend aus Baumstämmen, Seilen und den Gesetzen der Torsion und schlugen uns in gemütlicher Runde den Bauch mit selbstgemachten Crêpes voll. Nach und nach verwandelten 3000 Paar Schuhe den nassen Boden in Straßen aus Matsch und Schlamm, was dann am Abend ein richtiges Problem wurde, als wir einigen Zelten noch Besuche abstatteten. Einige wenige Grüppchen, deren Zelte vom Wasser druchweicht waren und kaum noch ein trockenes Plätzchen boten, kamen zeitweise in der Theaterjurte der Hansischen Fahrtenschaft unter. Der Nebel und der Rauch des Lagers hüllten die Zelte ein und zusammen mit den Feuern, den Gesängen und den Menschen hatte ich das Gefühl, im Mittelalter zu sein. Fast so, als hätte man einen Sprung in der Zeit zurück gemacht… Und es gefiel mir und ich vermisste nichts. Es war schließlich alles da, was man brauchte und was einem vielleicht manchmal sehr fehlt. So ging auch der letzte Lagertag im Kreise von Vagabunden, Sängern und Abenteurern für mich zu Ende.
Ich hatte viel zu lachen, wie auch nicht, wenn man halbnackte Gestalten in der Nacht dabei erwischt, wie sie verzweifelt versuchen, ein kleines Leck in der Plane genau über ihrem Kopf zu schließen oder sich die sicher geglaubte trockene Stelle am nächsten Morgen als Wassergrab für die Stiefel herausstellt? Ich hatte viel zu lernen, wie auch nicht, wenn einen die ganze Zeit über Menschen mit den unterschiedlichsten Fähigkeiten umgeben und einem erstmal gezeigt wird, dass man seine Stimme ja auch zum Singen hat? Ich hatte viel zu sehen, wie auch nicht, wenn tausende Menschen auf einem Platz zusammenkommen, um eine so ganz andere Lebensansicht zu pflegen, eine Tradition zu wahren und sich untereinander austauschen? Letzendlich schaue ich auf diesen kleinen Text und stelle fest, dass ich nur einen kleinen Bruchteil von allem aufs Papier gebannt habe. Für mich steht jedenfalls fest, dass ich neugierig auf mehr bin und unbedingt am Meißnertreffen 2038 teilnehmen will. Dann bin ich 50… Naja, mein Gott, dann schaff ich 2063 wohl auch noch.