Bücher sind ein Zugang zur Welt, zu Erfahrung und Wissen, zum Inneren der Menschen und deren verschiedener Charaktere - und letztlich auch zu sich selbst. Beim Lesen werden Denken und die Phantasie ganz anders und viel umfänglicher angeregt als beim Anschauen von Filmen. Während des Lesens entwickeln sich in gedanklicher Begleitung der Geschichte stets neue Einblicke und Ideen, spinnen sich Fäden weiter, stellen sich Fragen und tun sich Probleme im Verständnis auf, die gelöst werden wollen. Deshalb hat Lesen Folgen und es bleibt viel hängen. Kurzum, ein gebildeter Mensch liest. Doch was?
Wie kommt man auf wirklich gute und interessante Bücher? Durch Zufall? Durch Buchbesprechungen in der Zeitung (wer liest so etwas als Schüler?!)? Durch die Schule - oder aber durch Freunde?!
Wohl dem, der Freunde hat, die Bücher schenken, bewusst weitergeben oder davon erzählen. Mir hat Axi mit vielen Empfehlungen, Ausleihen und Geschenken über die Jahre einige neue Autoren, Blickwinkel, Wissensgebiete und damit letztlich auch Welten erschlossen.
Bei uns im Bund, zumindest im Umfeld der Horte setzt sich das fort. Doch darüber hinaus kommt das heute leider nicht mehr allzu häufig vor. Daraus entsprang die Idee der Lesespur, wo wir über interessante, aber eben nicht allgemein bekannte Bücher erzählen und vielleicht ein wenig daraus vorlesen wollten, um sie dadurch in den Gruppen und Bünden bekannt zu machen.
Im Meißner-Programmheft hieß es dazu:
„Unser bündisches Tun und Streben hat einen Sinn. Es stehen Ideen und Vorstellungen dahinter, die es zu vermitteln gilt. Oft helfen uns dabei Bücher, die zudem Denkanstöße geben können. Doch was lohnt sich zu lesen? Wir stellen Bücher vor, zum selber Lesen, zum Verschenken, zum darüber Nachdenken oder zum darüber Streiten.“
Die Lesespur war einer von drei Beiträgen unseres Bundes zum Meißnertreffen. Ein weiterer Programmpunkt war die von Freddy geleitete Streitwerkstatt, bei der sich in zwei Veranstaltungen bekannte Persönlichkeiten wie Wasa (Prof. Walter Sauer), Stephan Sommerfeld und Tolu gemeinsam mit dem Publikum interessanten und kontroversen Themen gewidmet haben. Als dritter Beitrag war ein Vortrag und Gespräch mit dem streitbaren Biologen Prof. Josef Reichholf zum Thema „In Zukunft ausgesperrt? Naturschutz contra lebendige Naturerfahrung“ geplant, was dann allerdings aus Krankheitsgründen kurzfristig ohne den Hauptreferenten als dennoch sehr interessante und Erkenntnis bringende Gesprächsrunde stattfand.
Den Auftakt zur Lesespur bildete eine Gesprächsrunde mit dem zur Zeit in England lebenden Literaturwissenschaftler Dr. Christophe Fricker, einem Fachmann für Stefan George, der unter dem Titel „Sag’s durch ein Gedicht“ in einer Jurtenrunde darüber erzählte, wie er durch ältere Freunde den Zugang zu George, Kunst und Literatur bekam.
In der zweiten Veranstaltung der Lesespur wurden, ebenfalls in einer Jurtenrunde, mit Unterstützung von Muck und Vitaliy, verschiedene Autoren und Bücher vorgestellt.
Um einem vielfältigen Publikum mit verschiedensten Interessengebieten gerecht zu werden, sollten es ganz verschiedene Themenbereiche und Autoren sein. Aber stets solche, die insbesondere für Heranwachsende, junge Hortenführer und junge Männer interessant sind. So kam eine kleine Auswahl ganz verschiedenartiger Autoren und Richtungen zusammen, die gemeinsam mit weiteren, aber bekannten Standardwerken, wie z.B. dem „Faust“, eine interessante Komposition für einen jungen Menschen bildet, der sich ein wenig mit Seinesgleichen, in der Literatur, der Welt und der Geschichte auskennen oder zumindest einen Überblick gewinnen möchte. Was natürlich nicht allein durch das Lesen einer Hand voll Bücher geschieht, die jedoch grundsätzliches Interesse, zum Beispiel an bestimmten Themengebieten, wecken und zu weiterem, eigenem Nachdenken, Nachforschen und Weiterlesen anregen können.
Das kurze Erzählen über ein Buch, von Leser zu Leser, gepaart mit möglicherweise eigenen Erkenntnissen und kurze Leseproben daraus wecken zudem meist mehr Lust und Neugier und sagen mehr über den Inhalt als ein Titel oder die Klappentexte.
Lesenswertes
So verpackt z.B. Saint-Exupery, der als Autor des Kleinen Prinzen gewiß allgemein bekannt ist, in Wind, Sand und Sterne, wie in fast all seinen anderen Werken auch, in zum Teil sehr abenteuerlichen (Flieger-) Geschichten so einige nachdenkenswerte, manchmal auch kompromißlos-harte philosophische Bewertungen und Fragen.
Während Joachim Fernau in unnachahmlicher, sehr amüsanter Weise Geschichte betrachtet, sich dabei weniger an Zahlen entlang hangelt, sondern sich auf das Wesentliche, auf Handlungen und Knackpunkte beschränkt, und dabei mit großer Menschenkenntnis und klugem Spaß Geschichte auch für Laien und gar für Geschichts-Muffel interessant und lebendig macht, wie zum Beispiel in Rosen für Apoll das antike Hellas. Ein Buch, das man gut als Einstimmung vor oder auch während einer Griechenlandfahrt lesen oder vorlesen kann.
Eine andere Art von Geschichtsbuch kommt von Wieslaw Kielar, der in Anus Mundi (Am Arsch der Welt) seine fünfjährige Haft in Auschwitz beschreibt. Als ganz junger Mann mit 21 Jahren verhaftet, berichtet er vom tagtäglichen KZ-Alltag, der sowohl fürchterliches Grauen als auch, und das macht seine Geschichte lebendig und nachvollziehbar, alltägliche fast „normale“ Auseinandersetzungen, Freundschaft, Freude, Enttäuschungen und Hoffnungen enthält. In dieser Eindringtiefe und Projektion auf eine tatsächliche Person wird realer KZ-Alltag, das Grauen und menschliche Abgründe, aber auch manches Heldentum viel leichter begreifbar als durch Sachberichte oder das bloße Betrachten von Bildern und Zahlen.
Der Inder Jaya Gopal widmet sich in seiner historisch-kritischen Bestandsaufnahme des Islam unter dem Titel Gabriels Einflüsterungen einem der wichtigsten Themen, mit denen wir heute im Abendland konfrontiert werden. Denn nur wer sich auskennt, kann und sollte auch mitreden. Das Buch wird GutmenschInnen und Schönrednern gewiß nicht gefallen, weil es gerade durch die Betrachtung der Entstehung und recht brutalen Frühgeschichte des Islam gewiß manchen Mythos vom Sockel holt. Es stellt Fakten und Personen vor, beleuchtet Hinter- und Beweggründe und ist dennoch oder vielleicht gerade deshalb spannend, für Laien gut verständlich und regt an, selbst weiter im Koran zu forschen und sich mit dem Thema zu befassen.
Timothy Ward hingegen beschäftigt sich mit dem Buddhismus. Aber nicht in einem Geschichtsbuch, sondern er berichtet in Tagebuchform in Wovon Buddha nichts erzählte von seinen Erlebnissen als junger, suchender, idealistischer Student mit Aussteigerträumen in einem buddhistischen Kloster im Urwald Nordthailands, wo er die dortige Lebenswirklichkeit, seine eigenen Begegnungen, Lebensfragen und Erlebnisse Buddhas Lehre gegenüberstellt und an so manchem zu zweifeln beginnt.
Notker Wolf, Aptprimas, also „Chef“ des weltweiten Benediktiner-Ordens, beschreibt in Worauf warten wir? auch für uns Wandervögel wesentliche und gut bekannte Probleme, die er in unserer Zeit und Lebenswelt sieht, wie z.B. die Überbetreuung und die Political Correctnes. Und er weist dazu, vor dem Hintergrund seiner eigenen Lebenserfahrung als Führungspersönlichkeit und als Christ, gehbare Wege, es selbst besser zu machen.
In dem Buch Fordern statt verwöhnen des Verhaltensbiologen Felix von Cube bekommt man Einblick in die Welt der Verhaltensforschung, einem weiten und unerhört spannenden Gebiet, das durch Konrad Lorenz bekannt wurde. Von Cube verdeutlicht darin leicht verständlich den Einfluß unserer von der Natur und Evolution programmierten und noch immer vorhandenen Urtriebe auf unser Verhalten, zeigt aber auch, wie damit umzugehen ist. Ein Buch, das beim Lesen gewiß so manche Erkenntnis über unser Verhalten mit sich bringt und zeigt: So ist der Mensch! Womöglich wird dabei, wie durch alle zuvor genannten Bücher ja eigentlich auch, der Traum von einem zukünftigen Paradies auf Erden durch eine zukünftig „veränderte, bessere“ Menschheit zum Platzen gebracht, sofern dieser denn bei dem einen oder anderen, trotz eigener Welt- und Lebenserfahrung, noch vorhanden sein sollte.
Hermann Hesses Demian hat nach dem Ersten Weltkrieg die Jugend in Deutschland in Verzückung gebracht. Sie hatte in Hesse einen der Ihren erkannt, der ihre Träume und Sehnsüchte verstand. Das scheint auch heute noch so zu sein, zumindest bei Jungen im jungen Erwachsenenalter, von denen sich fast alle, die es gelesen hatten, in der Hauptfigur des Emil Sinclair selbst wiedererkannt haben. Man beginnt sich durch solche nachholende Betrachtungen plötzlich selbst und gerade auch pubertäre Suche, Verwirrungen, Abgleiten und Sehnsüchte zu verstehen und zu begreifen. Bei uns im Bund ist es wahrscheinlich nach wie vor das meistverschenkte Buch. Nur eines muß man dazu beachten, die „FSK“ 19! Denn man darf es nicht zu früh lesen, sonst stellt sich statt einem Aha-Effekt eher ein fragendes Stirnrunzeln ein, was schade wäre.
In der Novelle Tonio Kröger schildert Thomas Mann über mehrere Jahre die Entwicklung eines zu Anfang 14-jährigen sensiblen Schülers bis zum erwachsenen Dichter. Tonio, der sich aufgrund seiner künstlerischen Veranlagung als Junge zunächst selbst als ausgeschlossen erlebt und sich dann bewusst vom Menschlich-Gewöhnlichen abheben will, entdeckt erst spät im Reifeprozess des Erwachsenwerdens die Liebe zum Menschlichen als Grundlage seines Schaffens. Auch hierbei gibt es so einiges, woran gerade wir als Leser uns selbst wiedererkennen, denn als Wandervögel sind uns das Alltags-Triviale, das Durchschnittliche und der Mainstream ja auch nicht gerade hold.
Mond hinter Wolken ist die Entstehungsgeschichte des Liedes „Es tropft von Helm und Säbel“. Der Schriftsteller Manfred Hausmann beschreibt in der kurzen und sehr zum Vorlesen geeigneten Geschichte wunderbar und bewegend eine Kohtennacht in der Lüneburger Heide, wo er mit einer Gruppe Jungs in der Verbotszeit illegal unterwegs war.
Ebenfalls aus der Verbotszeit, mit heimlichen Fahrten, gesellschaftlichem und väterlichem Druck, Verhaftung, Einkerkerung im Gestapogefängnis, Militärdienst, Gefangenschaft und Flucht, der dennoch illegal weitergeführten bündischen Gruppe und dem intensiven und prägenden Kontakt zu den Freunden erzählt Berry Westenburger in Wir pfeifen auf den ganzen Schwindel einen manchmal sprachlos machenden Teil seiner Jugendzeit.
William Goldings Herr der Fliegen ist wiederum ein echter Klassiker, den man ebenfalls gelesen haben „muß“, weil es nicht nur eine spannende und auch schon für Jüngere geeignete Abenteuergeschichte ist, sondern sich auch darin der Mensch und ganz verschiedene Charaktere mit all ihren Gegensätzen und auch Abgründen offenbaren. Es geht dabei um eine Gruppe von Jungs, die sich, nach einem Flugzeugabsturz auf einer einsamen Insel gestrandet, selbst organisieren müssen und dabei insbesondere an der Konkurrenz der beiden völlig unterschiedlichen jugendlichen Hauptpersonen Jack und Ralph scheitern.
Ein Ausflug ins Archaische ist auch Häuptling Büffelkind Langspeer, der in einer Biographie seiner Jugendzeit vom Aufwachsen und den Abenteuern eines Indianerjungen in Nordamerika berichtet, zu einer Zeit, als es dort noch keine oder kaum Weiße gab. Ob tatsächlich in Gänze echt oder nicht, das Buch wirkt jedenfalls sehr authentisch und eignet sich sehr zum Vorlesen in einer Jungengruppe, am besten natürlich auf einer Nordlandfahrt, die ja gut zum beschriebenen Lebensumfeld passt.
So also der kleine Einblick in die Lesespur, deren gute Stunde wie im Fluge verging und vieles deshalb nur angerissen werden konnte. Dennoch bot die Jurtenrunde auf dem Meißner einen kleinen Überblick über wenigstens einige schöne und auch wichtige Bücher und Themenfelder, die doch alle irgendwie zu der Erkenntnis führen: So ist der Mensch, worauf dann die Aufgabe folgt - machen wir dennoch das Beste daraus!