Es sind fünf Jahre Vorbereitungszeit vergangen – wenn man genau ist, vielleicht sogar sechs. Zufällig war ich dabei. Zufällig bin ich dabei geblieben. Es ist so vieles zufällig an unseren Begegnungen und Aktionen und dennoch finden sie immer wieder statt. Wir lernen uns hier kennen und wir lernten uns vor 25 Jahren kennen und wir lernten uns vor 100 Jahren kennen. Wir fanden Gemeinsamkeiten ohne über sie reden zu müssen, wie wir sie heute auch finden.
Es sind sogar die gleichen. Wir wandern und singen, fühlen uns stark und frei, fühlen wir uns unfrei-möchten wir das mit aller Kraft ändern, wir fühlen uns aufgehoben, als Teil einer Gruppe und selbstständig wie nie. Wir haben alle Möglichkeiten und wir nutzen so viele, wie es geht. Wir können alles machen und wir tun es, wir stärken unser Selbstvertrauen und üben uns darin, die Meinung anderer zu lassen, was sie ist. Eine Meinung anderer. Gut um sich damit zu beschäftigen.
Wir sind wie wir waren. Und wir sind neu. – Wir sind, wie wir waren, wir wissen selber wie er ist, der helle Sonnenschein, wir bauen unsre Häuser selber, jedes stürzt mal ein1. Wir leben als Jugendbewegung davon, dass alles immer gleich und immer neu ist. Dass jeder seine eigene Erfahrung macht und sie machen darf. Dass wir immer wieder unsere Wege trennen, um uns nicht trennen zu müssen. Wir stellen unser Herz über oberflächliche Probleme – wir werden später sehen, warum es gut war, wir wissen, dass es gut sein wird, denn es ist unser eigener Weg.
Wir sind kritisch und wir sind verliebt. Wir hinterfragen hier und wir glauben da einfach so fest, dass alles wird, wie es schön wäre. Jugendbewegung ist eine andauernde Pubertät. Wir sind Erwachsen wie nie und überschätzen uns im gleichen Atemzug. Und doch… suchen wir einfach nur immer unseren ganz eigenen Weg. Eine gemeinsame Pubertät gibt vielleicht auch die Chance auf Nachsicht miteinander. Nachsicht, wo der eigene Weg so sehr gesucht wird, dass der Wert anderer Dinge für eine Weile verblasst.
Fünf Jahre Vorbereitungszeit waren ein wenig wie „DIE“ Jugendbewegung unter einem Mikroskop. Ein kleines exemplarisches Entwicklungskonzentrat. Wir haben uns irgendwo gebildet - in vielen Strömungen. Plötzlich gibt es die Idee, etwas Gemeinsames zu gestalten. Plötzlich waren wir „alle“ an einem Ort. Wir haben gemeinsam vorbereitet ohne eine Leit-/Führungsstruktur zu haben. Bei den großen Treffen steht ein Haufen Bestimmer und keiner kann und will bestimmen. Diskutieren wollen viele. Wir haben viele Strukturen, aber es wird sich fünf Jahre immer deutlicher zeigen, dass wir in der Masse keinerlei Strukturen haben. Wir müssen alles neu errichten und gründen. Wir lernen uns kennen, wir finden unzählige Gemeinsamkeiten. Wir diskutieren und wir finden Unterschiede. Es bereichert und hier und da gibt es Risse. Unstimmigkeiten, Unklarheiten, große Unterschiede. Herz und Gruppe müssen Wege finden. Manche gehen nur gemeinsam, wenn sie getrennt gehen.
Andere Unterschiede, Knicke und Unstimmigkeiten durchleben einen Prozess. Sind wir eine Generation oder sind wir mehrere? Reden wir auf Augenhöhe oder findet sich hier jemand wichtig? Muss ich dich kennen oder darf ich dich kennenlernen? Wer sagt seine Meinung und warum? Wer ist alt und wer ist jung? Wer hat Recht? Innerhalb der Runde geschehen Emanzipationen. Wer anfangs aufgebracht lange Redebeiträge brachte, findet Gelassenheit im Zuhören und Ratschlägeanbieten. Wer anfangs krawallig explodierte statt von Beginn an mitzureden, bringt sich nun selbstbewusst ein. Wer sich anfangs als Gegenspieler empfand, sieht bei der letzten Vorbereitung, dass still und heimlich aus dem Gegen- ein Mitspieler geworden ist, der zukünftig fehlen wird. Besonderheiten, Macken und Überraschungen so vieler irgendwie seltsamer Mitstreiter werden zur Normalität und Stärke der Gruppe. Wir durchleben Pubertät und Gruppenprozesse verteilt auf acht Treffen in fünf Jahren. Wer hätte das anfangs gedacht?
Wir kamen aber ja nie zum Kennenlernen zusammen, sondern um gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen. Auch dieser Prozess lies uns eine Besonderheit der Jugendbewegung spüren. Vielleicht ist es vielen gar niemals klar geworden. – Mir kam der Gedanke, bei einem sehr kurzfristigen Interview vor zwei Wochen…
Wir trafen uns, in Foren, Zentren und der Bundesführerversammlung, um gemeinsam zu denken, fühlen und entscheiden. Wir vertrauen auf die Demokratie… und doch haben wir diese nur als Grundlage genutzt. Kaum eine Entscheidung wurde getroffen, nur weil eine Mehrheit die Hand hob. Ein einzelnes Argument, ein einzelnes Anzeichen von Bauchweh konnte Anlass genug sein, um sich einem Thema weiter und genauer zu widmen. Nicht selten haben wir so tiefere oder andere Einblicke erarbeitet als wir es anfangs erwartet hätten. Unsere Entscheidungen sind gemeinsam gewachsen. Wir haben uns bemüht, uns wirklich auseinanderzusetzen. Wir haben versucht, ehrlich mit uns zu sein. Einstimmig endeten deswegen noch lange nicht alle Diskussionen.
Ehrlichkeit und Wahrheit – welch große Säulen der Jugendbewegung und der Pubertät… Ich finde meinen Weg und konfrontiere mich selbst mit meinen Strategien, Versteckspielen und Ängsten. Wie ist das mit dem Alkohol? Fragen wir, wie es war und wenn wir fertig sind, fragen wir uns, ob wir besser wären… ob wir ehrlich sein können. Und wir trennen uns. Jugendbewegung ist in allem Gleichbleibenden eine Veränderung, vor allem Trennung. Jugendbewegung lebt von der ehrlichen Einsicht in den eigenen Weg. Der Zusatz der Meißnerformel kann für uns in der großen Allgemeinheit nicht gelten, weil wir schon vor sechs Jahren wussten, dass es nicht unser Weg ist. Nicht der gemeinsame. Wir wollen uns auch nicht mit großen Worten rühmen, um Schwächen oder veränderte Werte zu verdecken. Naja… manchmal wollen wir das vielleicht schon… wir sind schließlich in der Pubertät – Wirkung ist alles! Aber wir arbeiten hart daran, es uns nicht so leicht, sondern ehrlich zu machen.
Und überhaupt freuen wir uns so sehr am Zusammensein, dass wir gar keine Lust haben, uns dabei permanent schuldig zu fühlen. Manche Dinge sind bei uns unterschiedlich und einiges haben wir im kleinen Kreis verändert und im großen Aufeinandertreffen müssen wir nun dazu stehen üben. Es war auch schön, fünf Jahre vorzubereiten, sich in Foren zur aktiven Arbeit zu treffen, Zentren zu gestalten… auch ohne Meißner, genießt die Jugendbewegung das Treffen und den Austausch. Wir lieben zurzeit Singerunden in vielen Städten. Wir treffen uns in Kneipen und genießen die Vielfalt in der Gemeinsamkeit. Wir kamen nicht richtige in den Enthusiasmus, aber das Selbstverständnis hierher zu kommen, war offensichtlich enorm. Wir brauchen heute wie damals uns alle, wie wir sind. Wir wachsen daran und genießen es, wir feiern uns und wir kämpfen dafür.
Der stürmische, polarisierende junge Pfadfinder, der seine Meinung so sehr ansammelt, dass es dann mit aller Kraft aus ihm herausschießt, das beobachtende Mädchen, dass seine Ideale mit auf Fahrt nimmt und an ihre Gruppe weitergibt, die selbstbewusste Herausgewachsene, die Strukturen erkennt und einfordert, der gedankenverlorene 20jährige, der seine Themen in anderer Runde noch einmal anbringt und wachsen lässt, die Älteren, die ihre Hinweise und Sorgen einbringen, den stillen jugendlichen Designer, der einfach mal Fakten mit seinen Zeichnungen schafft und seither auch wahrgenommen wird, die erfahrene Pfadfinderin, die sich um den Ausgang von Diskussionen um Untergruppierungen sorgt, die erfahrene Ältere, die ihr ganzes Leben mit Herzblut für ihre Themen gestaltet und ihre Emotionen nicht verschlossen hält, der ältere Pfadfinder, der sein Wissen einbringt und sich aufbürdet, viele Diskussionen mit Jüngeren führen zu müssen, weil sie manche Dinge anders sehen, die überaus engagierte Wandervogelfrau, die beharrlich einen Rückschlag nach dem anderen in Kauf nimmt… und noch so viele mehr.
100 Jahre im Zeitgeist, 100 Jahre eigene Bestimmung, eigene Verantwortung und innere Wahrhaftigkeit. Wer oder Was bestimmt uns heute? Was haben wir zu verantworten und warum? Wer ist heute noch wahrhaftig und wie geht das? Die Gruppe stellt für uns nach wie vor das Zentrum der Jugendbewegung dar. In ihr finden und erleben wir Wahrheit, Ehrlichkeit und Mut zur Offenheit. Sie prägt uns. Wir selbst prägen uns. Wir bauen darauf. Diese Sicherheit nehmen und geben wir mit in die Gesellschaft. Allzu oft sehr unbewusst. Behalten und bewahren wir uns unseren Mut aus der Gruppe, können wir Oberflächlichkeiten, Unverbindlichkeiten, Schnelllebigkeit, Darstellungssucht und Überforderung wahrnehmen, für uns einordnen, all jenem vielleicht entgegentreten, auf jeden Fall jedoch unserer inneren Wahrhaftigkeit gegenüberstellen. Die Gruppe lässt uns erleben, wer wir selber sind. Sie macht uns klar, wann wir „bei uns sind“, was wir können und was wir üben sollten. Bauchgefühl, Entscheidungen treffen, Einsamkeit haben für uns Werte, wo sie für viele Menschen Bedrohungen zu sein scheinen. Und am Ende steht über allem die Verantwortung. Wir tragen sie, wie wollen sie, wir möchten sie leben und kämpfen mit uns selbst und anderen darum.
Wir haben viel auf die Beine gestellt und wir leben! Wir sind nicht, wie früher, nicht wie 1913, nicht wie 63 oder 88 und doch sind wir auch das. Es liegt in unserer Natur nicht an 13, 63 oder an 88. Wir sind wir. Jetzt wie damals. Wir sind auf dem Weg zu unserem Weg, wir suchen und fragen und suchen und versuchen und ob wir die blaue Blume finden, werden wir sehen. Jetzt suchen wir sie grade nicht nur auf Fahrt, sondern auch bei Kneipenabenden, Singewettstreiten und auf diesem Meißner. Es treibt uns an und weil wir, wir und hier und jetzt sind, sind wir jetzt stärker und aktiver denn je!
Ich wünsche mir, dass wir Jugendbewegung bleiben, weil wir uns weiterhin hinterfragen, Mut zur Ehrlichkeit haben und unser Handeln darauf ausrichten, um uns und anderen gerecht zu werden. Auf unsere Stärke zu Tiefsinn, Mut und Leichtigkeit!
- 1. Aus dem Lied „Man sagt“ von Robert Welti, Piratenschaft Storman